Agnes Palmisano – Meisterin des Dudelns
Wien ist die einzige Stadt mit einem eigenen Musikgenre. Nein, nicht der Walzer ist gemeint – vom Wienerlied ist die Rede. Und darüber reden kann am besten eine Interpretin: Agnes Palmisano. Sie beherrscht den einzigartigen „Wiener Dudler“ und führt das Wienerlied von der gestrigen Weinseligkeit und Todessehnsucht in die Gegenwart. Mit feinen Tönen, nuancen- und facettenreich, musikalisch tiefgründig und abseits des Mainstreams.
Wie beschreibt man das Wiener Dudeln?
Es ist eine Mischung aus Koloraturgesang – klassischem Schöngesang – und alpinem Jodler. Ein ganz starker emotionaler Ausdruck. Ich vergleiche es mit dem, was Babys mit ihrer Stimme machen: quengeln, freudvoll jauchzen, zufrieden vor sich hin lallen. Die Gefühle müssen in einem Dudler unbedingt mitschwingen.
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Agnes Palmisano und Laurentius Rainer im Seitenblicke-Interview über das Dudeln
Wie ist ein Dudler gestaltet?
Der Dudler ist der emotionale Ausdruck zu dem Lied, das man gerade singt. Wo einem die Worte fehlen, fängt das Dudeln an. Es gibt auch Varianten, da ist der Dudler vorneweg gestellt.
Die Tonhöhen sind beim Dudler prinzipiell festgesetzt, einen kleinen Improvisationsspielraum gibt es aber. Welche Silben, Konsonantenverbindungen und Vokale man einsetzt, dafür gibt es auf der Hand liegende Regeln. A und o haben nun einmal einen höheren Bruststimmenanteil als ein i oder ü. Dazwischen wechselt man hin und her. Wie beim Jodeln. Diese Jodeltechniken gibt es überall auf der Welt, ob in den Alpen oder bei den Pygmäen. Stilistische Feinheiten in der Wiener Musik sind dann die Färbung der Vokale, das Vibrato, wieviel Glissando, Portamento … .
Ein paar Fragen zu der Stadt, in der Sie leben: Wie klingt Wien für Sie?
Genau in der richtigen Mischung aus ein wenig fein und ein wenig derb. Das direkte Nebeneinander von beidem macht Wien aus. - Eine Mischung aus Sachertorte und Burenwurst.
Was zeichnet den Wiener aus?
Der Hang zum Phlegmatischen, Gemütlichen. Auch der Humor. Nicht nur im Sinn von witzig, sondern auch mit der Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können. Über die strahlende und die dunkle Seite. Typisch ist auch, dass viele Nicht-Wiener in Wien sind. Genau so war es immer schon.
Wann sudert der Wiener?
Oh ja, das gibt es! Und es ist typisch. Es hat mit Bequemlichkeit zu tun. Das bisschen Energie, sich über etwas aufzuregen, kratzt der Wiener zusammen. Mehr – zum Beispiel etwas ändern – geht aber nicht. Ein Vorarlberger etwa würde einfach nicht reden, sondern aufstehen und die Dinge ändern.
Was gibt es nur in Wien?
Den Wiener Dudler. Er ist immaterielles Kulturerbe der UNESCO. Als ich ganz jung war, habe ich mit Trude Mally gedudelt, ihr Akkordeonist hat mich begleitet, ich habe quasi ihr Erbe angenommen. Es gibt jetzt aber wieder etliche, die das machen, als stimmlichen Effekt oder Schwerpunkt. Derzeit verknüpft man meinen Namen damit – das ist ok, und ich mache es auch sehr gern.
Wo finden Sie Wien am schönsten?
Auf der Donauinsel und auf meiner Terrasse. Zur Donauinsel habe ich schon eine lange Beziehung, seit einem Schulausflug. Seit ich hergezogen bin, ist hier mein Anker, hier kann mich bewegen. Ich skate gern. Jederzeit und überall kann ich ins Wasser springen. Die Donauinsel ist so groß, dass man leicht einen ruhiges Flecken findet. Wenn ich über eine Brücke fahre und darauf schaue, denke ich: „Ah, ist das schön!"
Ihr Tipp: Wo hört man Wiener Musik?
Jeden Dienstag beim Heurigen Hengl-Haselbrunner. (Lacht). Zufällig da, wo ich auch wohne. Wir versuchen, das lebendige Musizieren aufrecht zu erhalten. Man weiß an diesen Abenden nie genau: Ist es ein Konzert oder treffen sich ein paar Musiker zum gemeinsamen Spielen.
Dudeln ist für Sie sicher nicht alles …
Ich singe viel Wienerlied, am liebsten mit meinem Trio. Wir bewegen uns aber nicht nur im traditionellen Kontext. Derzeit spielen wir ein Programm mit Liedern des englischen Renaissancekomponisten John Dowland auf Wienerisch. Es wird im Musikverein und im Wiener Konzerthaus zu hören sein – einer meiner Lieblingsorte übrigens. Ich spiele auch immer sehr gerne Liedprogramme mit dem Pianisten Paul Gulda.
Wo treten Sie noch gerne auf?
Überall! Am wohlsten fühle ich mich in kammermusikalischem Rahmen, wenn ich das Publikum spüre. Dann kreieren wir gemeinsam Energie. Ich singe nicht gerne verstärkt. Im Café Prückel haben meine ersten monatlichen Wienerlied-Konzerte stattgefunden. Den Raum habe ich gelernt zu füllen – tolle Lehrjahre. Und jetzt natürlich: unsere Heurigen-Konzerte.
Wie wichtig ist der Live-Moment bei Auftritten?
Musikkonsum ist seit tausenden Jahren auf ein Zentrum hin gerichtet, ein Konzertsaal ist wie eine Kirche, die Bühne der Altarraum, die Musiker die Zelebranten. Die ganze Energie fließt in diese Richtung. Als Künstler hat man die Verantwortung, diese zu nehmen, zu transformieren und anders herauszulassen. Wer auftritt, ist aber in gleichem Maß wichtig wie der Raum und das Publikum. Das wirkt immens zusammen. Jeder einzelne Zuhörer ist mitverantwortlich, ob der Abend „aufgeht“ – mit der Art, wie und ob er aufmacht und die Musik zulässt. Wenn das Publikum echt zuhört und mitschwingt, verändert das sogar die Akustik des Raumes.
Ihre musikalische Sternstunde?
Gerhard Bronner hat mich als junges Mädel beim Wienerlied-Festival Wean hean entdeckt, ab und zu haben wir gemeinsam musiziert. Schließlich durfte ich im Wiener Konzerthaus im Großen Saal auftreten, zu seinem 80. Geburtstag, mit Radioübertragung. Das war so geil. Sonst hätte ich nie in dem Alter die Möglichkeit gehabt, in derart großen Rahmen aufzutreten.
Üben Sie vor Auftritten?
Wienerlieder muss ich nicht wiederholen. Abseits davon: natürlich! Manche Wienerlieder sind eine Art Kunstform – letztlich sind sie dafür da, dass Leute sie anhören und sich dabei unterhalten. Ich verfüge über eine große Tasche an Repertoire. Ich stehe gerne auf der Bühne, da lasse ich die Rampensau in mir los.
Wollten Sie schon immer Musikerin werden?
Ich wollte immer singen, singen, singen. Und auf einer Bühne stehen. Musikerin bin ich keine, ich bin Sängerin. Ich bin extrem stimm- und körperfixiert. Das interessiert und fasziniert mich, immer schon.
Kann jeder singen lernen?
Ich unterrichte Wienerlied an der Musikuni MUK – hier: Studenten aus aller Welt –, aber auch Stimmbildung für angehende Lehrer in Baden. Dort ist es erschreckend, welche Angst manche vor ihrer Stimme haben. Sie können sie nur zum Sprechen benützen. Eigentlich hat die menschliche Stimme aber drei Oktaven. Singen ist eine urmenschliche Ausdrucksfähigkeit und -notwendigkeit emotionaler Natur. Babys singen, bevor sie sprechen. Was die Stimmbänder da tun, ist viel näher am Singen als am Sprechen. Dadurch haben sie diesen großen emotionalen Ausdruck.
Gerade das Dudeln ist eine tolle Art, sich mit der eigenen Stimme auseinanderzusetzen. Ich unterrichte es auch sehr gern. Man probiert alle Register seiner Stimme aus. Es muss im Fluss sein.
Singen tut gut?
Unbedingt. Auch der soziale Aspekt: Gemeinsam Singen macht etwas in einem selbst, als Teil einer Gesamtheit. Das kann man nur erleben. Leider geht das sukzessive verloren, es wird immer weniger gesungen, nur Musik konsumiert. Musik machen wäre gefragt.
Interview: Susanna Burger, Juni 2021