Wiener Rindfleischkult
„Gekochtes Rindfleisch ist die Seele der Wiener Küche“, schrieb einst der Essayist und Journalist Joseph Wechsberg (1907-1983). Womit er recht hatte. Denn vieles aus der Wiener Küche hat ihren Ursprung in den ehemaligen Kronländern, nur das gekochte Rindfleisch ist eine echte Wiener Spezialität. Das heute bekannteste und beliebteste Siedefleisch ist der Tafelspitz. Während die ganze Welt das Wiener Schnitzel kennt, muss man Gästen über das gekochte Rindfleisch oft noch etwas erzählen. Denn in den meisten Ländern wird das Rindfleisch gebraten, gekochtes löst oft Erstaunen aus.
Lieblingsspeise des Kaisers
In Wien entwickelte sich eine Passion für das Rindfleisch. Vor allem um das gekochte Rindfleisch entstand ein wahrer Kult. Ihre Hochblüte erlebten das gekochte Rindfleisch und die damit einhergehende Suppenkultur im 19. Jahrhundert, als sich die typische Wiener Küche entwickelte. Die Erfolgsgeschichte des Siedefleisches hat auch etwas mit Kaiser Franz Joseph zu tun. Denn der Tafelspitz war seine Lieblingsspeise. Der Kaiser aß gerne einfach, war anspruchslos, er mochte auch Rindssuppe mit Grießnockerl, Kalbsbutterschnitzel oder Wild. Den gekochten (bzw. gesottenen – wie man damals sagte) Tafelspitz hatte er am liebsten mit eingebranntem Gemüse nach Saison. Seine Frau Elisabeth hingegen lebte zwischen extremen Fastenkuren und einer Vorliebe für Süßes. Um schlank zu bleiben, trank sie auch den ausgepressten Saft aus rohem Rindfleisch. Wenn sie hingegen aß, dann hatte aber auch sie gerne Rindfleisch mit Gemüse. Und so wurde das gekochte Rindfleisch bei Adel und Bürgertum ebenfalls populär, wo man sich immer daran orientierte, was gerade am kaiserlichen Hof angesagt war.
Fledermaus im Kochtopf
Für gekochtes Rindfleisch können verschiedenste Teile des Rindes verwendet werden. Und wie das Fleisch zerteilt wird, dafür ist Wien ebenfalls bekannt. Die so genannte Wiener Teilung ist eine besondere Methode der Zerlegung, die möglichst viele Teile mit unterschiedlichen Konsistenzen hervorbringt. Nirgendwo sonst wurde und wird Rindfleisch in so viele Teile zerlegt wie in Wien. Die hohe Kunst der Wiener Teilung ist heute noch bekannt und berühmt und verlangt viel Fingerfertigkeit. Jedes einzelne Teil des Rindes hat einen klingenden Namen – vom Kavalierspitz bis zur Fledermaus, vom Tafelspitz bis zum Schulterscherzel. In früheren Rindfleischtempeln wie dem damaligen Meissl & Schadn wurden bis zu 24 verschiedene Rindfleischspezialitäten serviert.
Wie wichtig die Rinderküche damals in Wien war, zeigt auch die Anfang der 1880er-Jahre errichtete Rindermarkthalle in St. Marx. Der riesige denkmalgeschützte Industriebau bot damals Platz für die Versteigerung von bis zu 6.000 Rindern. Die Köche der Adeligen, der Hotels und Gasthäuser kauften dort direkt ein und zerlegten die Tiere selbst. Ein Koch war damals auch gleichzeitig Fleischhauer. Die Rindermarkthalle in St. Marx wurde bis 1997 als Viehhalle genutzt und ist heute eine Event-Halle.
Hungrige Offiziere
Der Legende nach geht der Ursprung des gekochten Rindfleisches auf eine strenge Regel am Kaiserhof zurück. Der Kaiser wurde bei Tisch als Erster bedient und niemand durfte mehr weiteressen, nachdem er das Besteck weggelegt hatte. Kaiser Franz Joseph war bekanntlich ein schneller Esser und so mussten die Offiziere oft hungrig die Tafel verlassen. Sie kehrten danach gerne im Sacher ein, wo immer ein gekochtes Rindfleisch parat war, das schon einige Stunden vor sich hinköchelte.
Die perfekte Zubereitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Bandbreite der Rindfleisch-Arten in der Wiener Küche verloren. Heute wird meist der klassische Tafelspitz serviert, ein feinfaseriges und gut abgehangenes Stück vom Rind. Er bleibt auch nach langem Garen noch sehr saftig. Der Tafelspitz ist eigentlich ein einfaches Gericht, aber doch ganz große Kunst. Das Fleischstück wird in der Regel im Ganzen in bereits kochendes Wasser eingelegt, in manchen Küchen wird das Fleisch aber auch in kaltem Wasser aufgesetzt. Der Tafelspitz wird bei geringer Hitze, nur schwach köchelnd, mit Pfefferkörnern und eventuell auch Lorbeerblättern gegart. Später kommen Wurzelgemüse, Zwiebel, Lauch und Liebstöckel dazu. Manchmal wird das Siedewasser für einen intensiveren Geschmack mit Rindsknochen aufgestellt. Eine besondere Zubereitungsart ist mit Rindermarkknochen, die dann gemeinsam mit dem gekochten Rindfleisch serviert werden. Gesalzen wird erst am Schluss, sonst verfärbt sich das Fleisch.
Zum Servieren wird der Tafelspitz in Scheiben geschnitten (wichtig: immer quer zur Faser!) und beim Anrichten sofort mit heißer Suppe übergossen, damit das Fleisch saftig bleibt, und mit Schnittlauch bestreut. Als Beilagen werden traditionell Schnittlauchsauce, Cremespinat, Apfelkren, Semmelkren, Gemüse und Rösterdäpfel gereicht. Und ganz nebenbei entsteht beim Kochen auch noch eine kräftige Rindssuppe – auch sie ein wichtiger Bestandteil der Wiener Küche mit ihren vielfältigen Suppeneinlagen von Frittaten über Grießnockerl und Leberknödel bis zu Lungenstrudel.
Der Tafelspitz im Heute
Gekochtes Rindfleisch steht heute in fast allen Restaurants und Gasthäusern, die Wiener Küche anbieten, auf der Karte. Sei es im einfachen Beisl oder im noblen Hotel Sacher, wo früher schon die Offiziere zum Rindfleisch-Essen einkehrten. Besonders bekannt sind heute zwei Rindfleisch-Institutionen in Wien. Das 1896 eröffnete Meissl & Schadn war einst ein legendäres Hotel mit einem ebenso legendären Restaurant am Neuen Markt, das vor allem für seine Rindfleisch-Spezialitäten bekannt war und die oben genannten 24 Sorten im Portefeuille hatte. Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es von Bomben zerstört. Als Referenz an diesen legendären Ort befindet sich an der Wiener Ringstraße im Hotel Grand Ferdinand nun ein Restaurant mit dem gleichen Namen. Was im heutigen Meissl & Schadn ebenfalls nicht fehlen darf: das gekochte Rindfleisch. Hier wird es vom Wagen serviert und der Gast kann zwischen Tafelspitz, Schulterscherzl, Beinfleisch und Zunge wählen, den gegrillten Markknochen gibt es auf Wunsch ebenfalls dazu. Angerichtet wird das Rindfleisch hier auf speziellen Tellern, die originalgetreu nach Entwürfen von Philipp Aigner aus dem Jahr 1896 gefertigt werden. Aigner hatte sich seine so genannten Garnierschüsseln sogar weltweit patentieren lassen. Die Unterteilung des Tellers in verschiedene Fächer verhindert ein Zusammenfließen der Speisen. In der Mitte wird das gekochte Rindfleisch platziert, in den Vertiefungen rundherum die Beilagen.
Wer an Tafelspitz in Wien denkt, verbindet das auch automatisch mit dem Namen Plachutta. Die Familie Plachutta gilt als DIE Tafelspitz-Dynastie. Restaurantgründer Ewald Plachutta, Doyen der Wiener Küche, ist inoffizieller Rindfleisch-Kaiser. In den Plachutta-Restaurants wird die Rindfleischkultur gepflegt. Hier stehen neben dem Tafelspitz sogar die mittlerweile unbekannteren Rindfleischteile auf der Karte: Kruspelspitz, weißes Scherzl, Hüferschwanzl und noch viele mehr. Wer den Tafelspitz einmal anders probieren möchte: Auch als Sulz oder Rindfleischsalat wird er gerne serviert.
Restaurant "Rote Bar" im Hotel Sacher
1010 Wien
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Öffnungszeiten
- täglich, 12:00 - 00:00
Plachutta Hietzing
1130 Wien
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Öffnungszeiten
- Mo - Fr, 11:30 - 15:00
- Mo - Fr, 18:00 - 23:00
- Sa - So, 11:30 - 23:00
- feiertags, 11:30 - 23:00